Freitag, 29. Januar 2016

Der Brief von Abraham Lincoln



Anmerkung: The Hateful 8 wird in Deutschland in zwei verschiedenen Versionen gezeigt. Die meisten Kinos spielen aus Ausstattungsgründen die Digital-Fassung des Streifens, einige wenige die etwa 20 Minuten längere, vom Regisseur bevorzugte 70mm-Version.
Diese liegt auch der nun folgenden Kritik  zugrunde. 

The Hateful 8

Seit 1966 wurde das Ultra Panavision 70-Verfahren nicht mehr für einen Kinofilm eingesetzt. Die enorm breiten Panoramen aus Ben Hur, Vom Winde verweht oder Lawrence von Arabien verdanken wir dem Seitenverhältnis von 2,76:1, wie es das Drehen auf 70mm (respektive 65mm) Film ermöglicht. Quentin Tarantino erkannte nun Ultra Panavision 70 als die beste Möglichkeit das epische Gefühl dieses Filmaufnahmeverfahrens wiederzubeleben. Damit einher geht die Aufführung von The Hateful 8 in der vom Regisseur bevorzugten Variante – der Roadshow. Diese Art der Präsentation war in der großen Hollywood-Ära der 50er und 60er Jahre weit verbreitet. Filme wurden mit Ouvertüre und Intermission gezeigt und ähnelten viel eher gesellschaftlichen Ereignissen als durchschnittlichen Kinobesuchen, Zuschauer warfen sich in Schale und bekamen Programmhefte gereicht. Diese Eigenschaften prasseln nun zusätzlich zu einem dreistündigen Opus Magnum auf den ungeübten Konsumenten aus dem Youtube-Clip-Zeitalter ein - Eine fordernde, aber lohnende Erfahrung. Folgerichtig nutzt Tarantino die verordnete Pause, um The Hateful 8, der zugleich Western und Kammerspiel ist, in inhaltlich zwei verschiedene Teile aufzusplitten. In den ersten 90 Minuten etabliert der Film acht spannende und geheimnisvolle Charaktere. Wie kein zweiter vermag der Kultregisseur Dialoge, Schauspieler und die Figuren, die sie verkörpern in Einklang zu bringen. So fällt es schwer den famosen Cast rund um Kurt Russel, Samuel L. Jackson, Tim Roth, Bruce Dern, Zoe Bell und Channing Tatum in bessere und schlechtere Leistungen einzuteilen, doch zwei Akteure stachen mir besonders ins Auge. Zum einen Walton Goggins (Sons of Anarchy, Justified), der als schleimiger Opportunist am direktesten das Fehlen jeglicher Moral und Güte im archaischen Amerika verkörpert. Zum anderen begeisterte mich Jennifer Jason Leigh, die als Gefangene und Zentrum der Handlung zwar den Großteil des Films an den Arm von Kurt Russell gefesselt ist, doch mit ihrer bloßen Mimik eine schelmische Verschlagenheit an den Tag legt und unterschwellig offenbart, wie weit überlegen sie ihren männlichen Konterparts ist. Denn deren Missgunst, Gier und soziale Unfähigkeiten leiten in den minimal schlechteren zweiten Teil von The Hateful 8. Nach einer regelrecht spektakulär langsamen ersten Filmhälfte nehmen im weiteren Verlauf, das Tarantino-typische Chaos und die damit einhergehende Dezimierung der hasserfüllten Acht ihren Lauf. Etwas jedoch schmälert im Verlauf der zweiten 90 Minuten den Hochgenuss, der The Hateful 8 bis dato war. Die ausufernde, comichaft überzeichnete Gewaltspirale, die im direkten Vergleich besonders Reservoir Dogs, Kill Bill Vol.1 und Django unchained trotz ihrer Brutalität allgemein verträglich bleiben ließ, wird hier etwas überdreht. Die gewohnt skurrile und herrlich überdreht-witzige Story mag diese Ernsthaftigkeit des Gore-Faktors nicht gut zu Gesicht stehen. Dazu weiß jeder, der in den letzten 25 Jahren einen Film sah, dass es maximal wenige handelnde Personen lebend aus Minnies Miederwarenladen (der Ort des hauptsächlichen Filmgeschehens) schaffen werden. Somit konzentriert sich das Hauptgeschehen zu sehr darauf, den Zuschauer zu überraschen, wann wer wie sterben wird. Aufgefangen wird diese leichte Ungenauigkeit im Ton des Films durch eine völlig unerwartete Rückblende, die erneut auf Tarantinos frühere Werke deutet. Generell finden sich natürlich wieder unzählige Anspielungen und Zitate auf das eigene Werk des Regisseurs obgleich The Hateful 8 Tartantinos bislang geradlinig erzähltester Film ist (Klassiker der Westerngeschichte, vor allem Werke von John Ford und Sam Peckinpah, kommen logischerweise auch nicht zu kurz). So finden sich eine bestimmte Zigarettenmarke ebenso im fertigen Film, wie ganze Dialogzeilen aus früheren Streifen des Filmemachers. Überhaupt wirkt The Hateful 8 wie eine zum Epos aufgeblähte Version der Kneipenszene von Inglorious Basterds. Trotz der eigenen Lobhudelei vermag uns Tarantino aber auch 2016 noch zu überraschen. Absurde Regieeinfälle, wie ein Off-Erzähler, der an den möglichsten und unmöglichsten Momeneten des Films regulierend ins Geschehen eingreift, nicht erwartbare Besetzungscoups und Running Gags mit Slapstick-Charakter (die Tür des Geschäfts und Jennifer Jason Leighs Gesicht spielen dabei eine große Rolle), lassen 187 Minuten Laufzeit niemals langweilig werden. Dazu trägt dann auch die glatte 1 in der B- Note breit. Die alles dominierende Kameraarbeit beeindruckt überraschenderweise mit den unfassbar breiten Aufnahmen nicht nur in Landschaftspanoramen des verschneiten, amerikanischen Nordens, sondern vermag vor allem in den Innenansichten mit enormer Tiefenschärfe mehr einzufangen, als es der Kinogänger von einem normalen Streifen gewohnt ist. Hier ist kein Teil des Bildes verschenkt worden. Des Weiteren konnte Tarantino Altmeister Ennio Morricone dazu bringen, erstmals einen seiner Filme komplett mit Musik zu hinterlegen. Zwar werden auch einige bereits bekannte Stücke eingespielt (vornehmlich langsame Countrysongs, die in krassen Kontrast zu den bedrohlich brodelnden Morricone- Themen stehen), doch der legendäre Komponist lässt The Hateful 8 zu einem Musterbeispiel dafür werden, wie sich Soundtrack und Score gegenseitig ergänzen. Genial gespielt, völlig durchgedreht, jedoch auch etwas sperrig – The Hateful 8 ist ein in jeder Hinsicht ungewöhnliches Filmerlebnis.

8/10

Für Fans von: Stagecoach, Reservoir Dogs, The Wild Bunch, Django unchained

Montag, 25. Januar 2016

Die Kinnlade fällt herunter




Anomalisa

Das Fregoli-Syndrom bezeichnet eine psychische Wahrnehmungsstörung, die Betroffene, meist einhergehend mit einer Form der Schizophrenie, daran glauben lässt, ihr bekannte Personen würden nach optischer Veränderung in anderen Körpern wieder in ihr Leben treten. Passenderweise war der Namensgeber dieser Erkrankung, der Italiener Leopold Fregoli, ein international bekannter Verwandlungskünstler in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Charlie Kaufman schrieb darüber hinaus das Theaterstück, auf dem Anomalisa nun beruht, unter dem Pseudonym Francis Fregoli. 11 Jahre nach dem Erscheinen dieses Werkes bringt Kaufman nun dessen Filmfassung in die Kinos. In einem universellen Lehrstück, das die ewige Gleichmacherei, die innere Einsamkeit unter Vielen und die Illusion der wahren Liebe behandelt, folgen wir dem Motivationsredner Michael Stone, der auf einer Vortragsreise Lisa kennenlernt. Unter all den, in Michaels Wahrnehmung identischen, Personen in seinem Umfeld, sticht sie heraus. Sie wird seine Anomalisa. Anomalisa unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von Kaufmans bisherigen Werken. Ob als Drehbuchautor oder Regisseur, Being John Malkovich, Vergiss mein nicht und Adaption behandelten zwar ebenfalls allgegenwärtige, psychologische Probleme des menschlichen Zusammenlebens, begeisterten aber zusätzlich durch überraschende Wendungen und verschachtelte Erzählweisen. Anomalisa nun ist enorm geradlinig erzählt (einzige Ausnahme: eine phänomenal lustige Traumsequenz). Der inhaltlichen Tiefe des Streifens kommt dies allerdings zu Gute. Der Zuschauer identifiziert sich sofort mit der tragischen Figur des Michael Stone und begleitet ihn durch alle Höhen und Tiefen in kurzweiligen 91 Minuten Laufzeit. Neben der thematischen Qualität überzeugt Anomalisa auch auf technischer Ebene, die ebenfalls ein Novum in Kaufmans Schaffen darstellt. Der Film wurde komplett im Stop-Motion-Verfahren gedreht. Anders als die Knethühner aus Chicken Run, oder die beweglichen Puppen aus Nightmare before Christmas ließ Kaufmann alle Figuren mittels 3D-Druckern erstellen. Gemeinsam mit der für Stop-Motion-Verhältnisse überragenden Kameraarbeit (teilweise ist nicht nachzuvollziehen, wie lange Shots, Spiegelungen o.ä. mit der eigentlich Bild für Bild entstehenden Inszenierungstechnik realisiert wurden) ist Anomalisa so wahres Augenfutter. Zusätzlich profitiert der Film von der genialen Idee, alle Charaktere mit Ausnahme von Michael und Lisa mit fast identischen Gesichtern und der gleichen Stimme (im Original: Tom Noonan, in der deutschen Synchro: Christian Weygand) darzustellen. Selten wurde die Liebe besser als Befreiung aus Gewöhnlichkeit und Melancholie greifbar gemacht. Anomalisa wird mit Sicherheit kein großer Erfolg an den Kinokassen beschert sein, doch wer sich an etwas abseitigen, existentialistischen Filmen erfreut, dem sei dieses cineastische Kleinod wärmstens empfohlen. Achja, das Hotel, in dem Anomalisa zum Großteil spielt, trägt den Namen Il Fregoli .

8/10

Für Fans von: Lost in Translation, Vergiss mein nicht

Donnerstag, 21. Januar 2016

Um die Welt in 8 Stunts



Point Break

Hollywoods nie endender Remake-Wahn hat sich derzeit einige Kultfilme aus den späten Achtzigern und frühen Neunzigern einverleibt, die weniger durch ihre cineastische Qualität, als vielmehr durch Unterhaltungswert und Kultfaktor bis heute eine treue Fangemeinde haben. Während sich die Aufgüsse von Dirty Dancing und Ghostbusters noch in der Produktion befinden (letzterer wird bei uns ab dem 28.7.2016 zu sehen sein), startet nun die Neuverfilmung von Kathryn Bigelows Point Break in den deutschen Kinos. Das Original zeigte 1991 Patrick Swayze auf dem Höhepunkt seines Erfolgs und begründete dabei noch die Karriere eines weiteren Weltstars, Keanu Reeves. Wer allein diese Schauspielgrößen, die trotz ihres vielleicht hölzernen Actings immer die Sympathien des Publikums auf ihrer Seite hatten, mit den neu besetzten Edgar Ramirez als Bodhi und Luke Bracey als Johnny Utah vergleicht, ahnt wohin die Reise in ausgedehnten 113 Minuten Film gehen wird. Selbst ein begnadeter Schauspieler wie Edgar Ramirez (Carlos – Der Schakal, Joy, Zero Dark Thirty) schafft es nämlich nicht gegen eines der einfältigsten Drehbücher der jüngeren Vergangenheit anzukämpfen. Während das Original noch durch seine Charaktere Spannung erzeugte, gelingt es Regisseur Ericson Core in seiner 2016er Version nicht ansatzweise die Faszination des Extremsports (gesteigert nach dem üblichen Remake-Prinzip) mit seinen eindimensionalen Figuren in Einklang zu bringen. Warum der junge Polizist Johnny Utah auf seiner Undercover-Mission dem autonomen Adrenalinjunkie und seiner Crew verfällt, bleibt komplett unschlüssig. Dazu vervollständigen eine unglaubwürdige Lovestory, zahlreiche Anschlussfehler und ein vorhersehbarer Schlusstwist das miese erzählerische Gesamtbild. Zumindest kann der gelernte Kameramann Core in Point Break mit einigen tollen Aufnahmen überzeugen. Das obligatorische Nationenhopping wird zwar nur uninspiriert erklärt, sieht aber großartig aus. Die Actionsequenzen sind dann, obgleich blutarm und hektisch, verhältnismäßig spannend und spektakulär. Dass man sich dank der fliegenden Snowboards, halsbrecherischen Motocross-Jumps und der aufgesetzten Bergromantik teilweise in einem Red-Bull-Werbespot wähnt – geschenkt. In diesem schlechten Film ist die Optik der einzige Lichtblick. Bleibt zu hoffen, das Paul Feig mit dem Vermächtnis von Ghostbusters sorgfältiger umgeht.

4/10

Für Fans von: Gefährliche Brandung (Point Break 1991), XxX – Triple X, Fast & Furious 7

Mittwoch, 20. Januar 2016

Die Väter des Wolfs



The Big Short

Mit der Pleite des US-Investmentbank Lehman Brothers im Herbst 2008 wurde eine weltweite Finanzkrise ausgelöst, deren Nachwehen bis heute allgegenwärtig im politischen Tagesgeschehen sind. The Big Short erzählt nun von Menschen, die diesen Kollaps kommen sahen, jedoch zwischen der Ignoranz der großen Geldhäuser und ihrer eigenen Profitgier aufgerieben werden. Dieses trockene und den durchschnittlichen Kinogänger fremde Thema dürfte leider dafür sorgen, dass The Big Short größtenteils unter dem Radar der breiten Öffentlichkeit laufen wird. Dies ist äußerst bedauernswert, denn Adam McKay wirkt in seiner famosen Mischung aus Finanzsatire und Wirtschaftskrimi auf schamlos unterhaltsame Weise genau dem entgegen. Der Anchorman-Regisseur schafft, was ihm wohl die wenigsten zugetraut hätten. Als reiner Komödienspezialist verantwortet er hier die Verfilmung eines undurchdringlichen Sachbuchs, fernab von platten Gags oder eindimensionalen Charakteren. Es ist genau diese Mischung aus brillianten Schauspielern und einem packenden Skript (das der Regisseur selbst schrieb), die aus The Big Short eine cineastische Meisterleistung werden lässt. In den 131 Minuten Laufzeit bombardieren uns die Macher des Films geradezu mit verschiedenen Stilen, Einflüssen und Ideen. Ein extrem dynamischer Schnitt (zurecht oscarnominiert) herrlich absurde Cameos (u.a. Margot Robbie und Selena Gomez als wandelnde Finanzlexika), ein irrer Soundtrack, der hauptsächlich aus Hard Rock- und Heavy Metal-Klassikern besteht und das ständige Durchbrechen der vierten Wand hätten neben anderen Gimmicks schnell Geschichte und Figuren überlagern können. Doch McKay hat die einzelnen Teile seines großen Films ständig unter Kontrolle, sodass der Zuschauer unentwegt gebannt in seinem Sessel mitfiebert. Denn trotz der optischen Raffinesse legt The Big Short seinen inhaltlichen Fokus klar auf die unmoralischen Verflechtungen der Geldinstitute, die die Gier im Menschen geradezu beflügeln. Die erstaunliche (obwohl bekannte) Entwicklung der Story löst im bestmöglichen Sinne Fassungslosigkeit aus. Steve Carell, Christian Bale, Ryan Gosling und Brad Pitt bilden dazu die Vorhut eines, wie bereits erwähnt, hervorragenden Casts. Besonders Carell blieb mir durch seine Leistung vorrangig im Gedächtnis. Er ist die Stimme der Vernunft, der tragische Held, der menschlichste der längst im Dickicht der Finanzwelt entmenschlichten Charaktere. Carell beweist somit auch weiterhin, dass seine hochgelobte Leistung in Foxcatcher kein Einzelfall war. Während Goslings aalglatter Deutsche Bank-Manager vornehmlich als Erzähler fungiert, darf Bale als autistischer Hedgefondsleiter dem Affen ordentlich Zucker geben. Pitt hat als Hardcore- Veganer und Finanzguru im Ruhestand die geringste Leinwandzeit, dominiert aber jede Szene, in der er vorkommt. The Big Short ist ein nahezu perfekt geschriebener und gespielter Parforceritt durch eine Parallelwelt, die uns (und so auch der pessimistische Ausblick des Streifens selbst) nur weiter schaden kann.

9/10

Für Fans von: The Wolf of Wall Street, Margin Call

Donnerstag, 7. Januar 2016

Die Kälte im und um den Menschen



The Revenant

Als Alejandro Gonzáles Iñáritu Anfang März 2015 drei Oscars für seine brilliante Satire Birdman entgegennehmen konnte (Bester Film, Beste Regie, Bestes Original-Drehbuch), steckten er und seine Crew bereits in den wohl aufreibendsten Dreharbeiten, die man sich vorstellen könnte. Bedingt durch Iñáritus Vorgaben, keinerlei künstliche Lichtquellen zu nutzen sowie den Film in chronologischer Reihenfolge zu drehen, erhöhte sich das Budget von geplanten 60 auf 135 Millionen Dollar. Dazu verließen viele Mitwirkende das Set während des 9monatigen, strapaziösen Shoots. Auch Hauptdarsteller Leonardo DiCaprio sprach nach Drehschluss davon, unzählige Male an sein körperliches und seelisches Limit gestoßen zu sein. Doch zumindest für die Kinofans haben sich diese Leiden gelohnt. The Revenant ist ein urgewaltiges, unberechenbares und zugleich wunderschönes wie bestialisches Stück Kinomagie. Iñáritu nimmt uns mit in das amerikanisch-kanadische Grenzgebiet der 1820er Jahre. Wir folgen einer Gruppe von Pelzjägern, die sich stets mit verschiedenen Indianerstämmen, französischen Brigaden und vor allem der erbarmungslosen Natur herumschlagen muss. Die verschiedenen Fronten der Hintergrundgeschichte scheinen gänzlich losgelöst von einer Zeit zu sein, in der nur wenige Jahrzehnte später das Bild der edlen Wilden und sprudelnden Ölquellen die klassische Westernepoche einläuten wird. Doch all dies nutzt The Revenant nur als Aufhänger um eine Survivalgeschichte von ungekannten Ausmaße zu erzählen. Hugh Glass, einer der Trapper, überlebt eines Tages einen Bärenangriff (technisch herausragend umgesetzt) nur knapp, wird zum Sterben zurückgelassen und schwört Rache. In den Händen der meisten Regisseure könnte diese Prämisse in ausgedehnten 156 Minuten zur echten Sitzfleisch-Belastungsprobe werden, doch Iñáritu hält die Spannungskurve und damit das Interesse des Zuschauers stets aufrecht. Denn glücklicherweise kann er sich auf seinen Kameramann Emmanuel Lubezki verlassen. Der zweifache Oscargewinner (2014 für Gravity, 2015 für Birdman) kann sich auch 2016 wieder große Chancen auf die goldene Statue machen. Nicht nur wäre er der erste Mensch, dem dies überhaupt gelang, Lubezkis Stil unterscheidet sich auch wohltuend von den beiden genannten Vorgängern, sodass die epischen Bilder stets aufs Neue begeistern. Der Kameraarbeit ist es auch zu verdanken, dass die Wildnis des amerikanischen Nordens (gedreht wurde in Kanada und wetterbedingt zusätzlich in Feuerland) zum zweiten Protagonisten des Films wird. Ähniche Bilder, die die Erbarmungslosigkeit der Elemente und die berührende Schönheit der Flora und Fauna gleichsam verdeutlichen, wird man so kaum finden. Doch neben all den optischen Highlights profitiert The Revenant an vorderster Front von ganz hervorragenden schauspielerischen Leistungen. Allen voran überzeugt Leonardo DiCaprio als personifizierter Überlebenswille. Der Kampf gegen die widrigen, äußeren Bedingungen und der Schmerz, der sein Inneres zersetzt, lassen sich großartig an DiCaprios Mimik ablesen. Denn generell gilt: In The Revenant wird kaum gesprochen. Sollten Worte von Nöten sein, dann fallen diese kurz, schmerzhaft pragmatisch, oder gleich in der Sprache amerikanischer Ureinwohner aus. Aus der illustren Riege der Nebendarsteller sei hier auf Tom Hardy als narzisstischen Antagonisten, Domhnall Gleeson als ehrenwerten Anführer der Expedition und Will Poulter als gewissenhaften Grünschnabel hingewiesen. Besonders für Gleeson und Poulter bedeutet The Revenant einen gewaltigen Schritt auf der ohnehin schon steilen Leiter zum Schauspielolymp, den beide in den letzten 12 Monaten mit Ex Machina und Star Wars 7, bzw. dem Maze Runner-Franchise und Wir sind die Millers schon anstrebten. Insgesamt muss sich The Revenant allerdings gefallen lassen, mit seinem Hang zu Symbolik und Esoterik den Bogen etwas zu überspannen. Besonders die Fieberträume/Rückblenden/Seelenmanifestationen des dahinsiechenden Hugh Glass wirken teilweise deplatziert. Nichtsdestotrotz ist The Revenant das Survivalabenteuer, an dem sich künftige Filmemacher messen lassen müssen.

9/10

Für Fans von: Apocalypse Now, Die durch die Hölle gehen, Der mit dem Wolf tanzt

Alles Alles doppelt doppelt


Legend

„Dies ist meine Geschichte der Krays“. Nach eigener Aussage des Regisseurs Brain Helgeland wurde ihm bei seiner Recherche für dieses Gangsterdrama so ziemlich jede mögliche und unmögliche Story über die legendären Kray-Zwillinge präsentiert. In London ist deren Vermächtnis bis heute ungebrochen, und obwohl die Brüder über die Hälfte ihres Lebens hinter Gittern verbrachten, gelten sie als die schillerndsten Figuren der britischen Unterwelt in den 60er Jahren. Und so versucht Legend gar nicht erst ein großes Aufsehen um präzise Realitätstreue zu machen. Der Film ist eine satirische Überhöhung, ein fast schon im Comicstil gehaltenes Portrait zweier grundverschiedener Brüder. Folgerichtig nähert sich Helgeland der Legende der Zwillinge dann auch hauptsächlich auf persönlicher Ebene an, während das Business der Gangsterbosse zweitrangig bleibt. Die größte Stärke des Films ist definitiv Tom Hardy, der hier beide Brüder verkörpert. Als kühler Kopf und Mann von Welt gibt er Reginald Kray, der London mit Hilfe des amerikanischen Gangsterbosses Angelo Bruno zum Las Vegas Europas werden lassen wollte. Eindrucksvoller und von längerer Nachwirkung hingegen darf seine Darstellung des gewalttätigen, aufbrausenden und schizophrenen Ronald Kray gelten, der sich die guten alten Gangstertage zurückwünscht, in denen Problem schlicht mit Gewalt aus dem Weg geräumt wurden. Es war zwar zu erwarten, das Hardy eine tolle Performance abliefern würde, er gehört ja nicht ohne Grund zu den Aushängeschildern seiner Generation von Schauspielern, wie er jedoch die Charakteristiken beider Brüder komplett nachvollziehbar und abwechslungsreich auf die Leinwand bannt, ist einfach atemberaubend. Neben dieser Leistung tritt dann auch das restliche Ensemble etwas in den Hintergrund. Allen voran Emily Browning kann als Reginald Krays Ehefrau und Erzählerin des Films nur wenig zur Geschichte beitragen. Die Nebenhandlung um ihre Figur bremst dann den Film in der ohnehin schon schwächeren zweiten Hälfte zusätzlich aus. Am ehesten im Gedächtnis bleiben dann noch David Thewlis (Harry Potter) als Buchmacher und Berater der Zwillinge und Taron Edgerton (Kingsman: The Secret Service) als Ronalds psychopathischer Lover. Optisch ist Legend eine wahre Freude. Mit toller Steadycamarbeit entführt uns der Streifen ins London der Swingin' Sixties. Eine detailgetreue Ausstattung und perfekt nachempfundene Kostüme (Regisseur Helgeland bezog sich bei deren Auswahl unter anderem auf die Legende, nach der Ronald Kray mit einem Foto von Al Capone zu seinem Schneider ging) verbinden sich mit dem elektrifizierenden Soundtrack, der unter anderem Hits der Herman's Hermits, Rod Stewart oder The Righteous Brothers beinhaltet, zu einem echten Fest für alle Sinne. Die morbide Grundstimmung des Films sowie die raren, aber heftigen Gewaltausbrüche sorgen in diesem Zusammenhang dann auch für viel schwarzen Humor. Selbst nach dem 131minütigen Erlebnis, das Legend zweifellos ist, bleibt die Annäherung an die Krays jedoch unvollständig. Zu mannigfaltig wurden ihre Geschichten im Laufe der Jahrzehnte weitergesponnen und verändert, zu sprunghaft ist der Film angelegt, ohne auf einen größeren erzählerischen Bogen zu achten. Wer also auf ein historisch korrektes Bio-Pic aus ist, sollte um Legend einen Bogen machen. Was Helgeland jedoch gut gelingt, ist den kaum greifbaren Mythos der Kray-Zwillinge perfekt ausgestattet auf Zelluloid zu bannen.

7/10

Für Fans von: GoodFellas, Gangster Squad

Blumen und Flüsse







The Danish Girl

The Danish Girl erzählt die Geschichte der dänischen Malerin Lili Elbe, die sich als eine der ersten intersexuellen Menschen einer geschlechtsumwandelnden Operation unterzog. Mit perfekter Ausstattung und viel Einfühlungsvermögen entführt uns Regisseur Tom Hooper (The King's Speech, Les Miserables) in die europäische Kunstszene der zwanziger Jahre. Der verhältnismäßig traurigen Lebensgeschichte Elbes wirkt der Film durch seine tolle Erzählperspektive entgegen. The Danish Girl konzentriert sich hauptsächlich auf die Ehe der als Einar Wegener geborenen Malerin mit einer amerikanischen Künstlerin namens Gerda, die in der Realität allerdings ebenfalls Dänin war. Somit umschifft Hooper die Schwierigkeiten eines Gesellschaftsdramas und legt eine einfühlsame Liebesgeschichte unter besonderen Umständen vor. Und folgerichtig ist The Danish Girl somit auch kein reines Aushängeschild für die Leistung Eddie Redmaynes. Der Brite ist natürlich das Zentrum der Erzählung und darf als einer der Favoriten in der Award-Season gehen. Und dennoch hielt ich in seinem Spiel die Grenzen zum Overacting arg strapaziert. Über diese Interpretation der Rolle muss ein jeder Zuschauer selbst entscheiden. Viel überzeugender erschien mir da die Leistung Alicia Vikanders als Gerda Wegener. Ihre Figur hinterließ auch durch das starke Drehbuch den bleibendsten Eindruck, denn an ihrer inneren Zerrissenheit zwischen der Liebe zu ihrem (biologischen) Mann und dem Respekt für dessen lebensverändernde Entscheidung kann sich der Zuschauer am besten orientieren. In diesem Zusammenhang sei auch auf die einfühlsame Leistung des belgischen Topstars Matthias Schoenaerts hingewiesen, der als bisexueller Kunsthändler zwischen beiden Eheleuten steht. Generell ist The Danish Girl bis in die kleinste Rolle perfekt besetzt. Zu den bereits genannten europäischen Größen gesellen sich noch Sebastian Koch als Kurt Warnekros, den Leiter der Dresdner Frauenklinik, Ben Wishaw als Einars Verehrer und die Texanerin Amber Heard. Die zugegeben etwas schwere und behutsam vorangetriebene Handlung wird dabei von der sehr positiven und filigranen Musik des Kultkomponisten Alexandre Desplat konterkariert. Dazu kann sich der interessierte Kinogänger an einem authentischen zwanziger Jahre-Feeling, einem wiederauferstandenen, romantisch-historischen Kopenhagen und tollen Drehorten in Paris und Dresden erfreuen. Tom Hooper gelang mit The Danish Girl ein von betroffenen hochgeschätztes Drama über Sexualität und Selbstfindung, das sich der leidigen Genderdebatte glücklicherweise vollkommen entzieht und als ruhige Liebesgeschichte sein (vermutlich kleines) Publikum finden wird.

8/10

Für Fans von: Blau ist eine warme Farbe, Midnight in Paris, Carol

Ein leiser Film







Louder than bombs

Wenn ein Regisseur in seinem nicht englischsprachigen Heimatland einen Film von großer Qualität dreht, der international für Aufsehen sorgt, findet er sich oftmals schnell im Strudel des amerikanischen Studiochaos wieder. Nicht selten folgt dann ein zwanghaft opportunistischer Film (gerne ein eigenes Remake) mit Topstars, der bei Kritikern und an den Kinokassen floppt. Der Regisseur hatte seine 15 Minuten Ruhm. Populäre Beispiele für diese Praxis sind der deutsche Oscargewinner Florian Henckel von Donnersmarck (Das Leben der Anderen), der mit seinem ersten englischsprachigen Werk The Tourist trotz Angelina Jolie und Johnny Depp baden ging oder der Belgier Erik van Looy, der im vergangenen Jahr einen Aufguss seines eigenen Erfolgsstreifens Loft unter amerikanischen Verhältnissen (Karl Urban, James Mardsen und Wentworth Miller waren mit von der Partie) drehte. Auch dieser Versuch war von keinerlei Erfolg gekrönt. Ein gleiches Procedere scheint nun dem Norweger Joachim Trier mit Louder than bombs zu widerfahren. Nach seinem Festivalhit Oslo, 31. August konnte Trier seinen dritten Langfilm mithilfe großer Studios und unter Mitarbeit gestandener Schauspielgrößen wie Gabriel Byrne, Isabelle Huppert, Jesse Eisenberg, Amy Ryan, Rachel Broshanan und David Strathairn drehen. Und auch Louder than bombs wird seit seiner Premiere bei den Filmfestspielen in Cannes bestenfalls mittelmäßig besprochen. Diese Bewertung ist meiner Einschätzung nach absolut richtig. Louder than bombs ist Kunst um der Kunst willen. Das Familiendrama um den Tod einer Kriegskorrespondentin, die Ehemann und zwei Kinder hinterlässt, erfüllt alle Arthouseklischees vom ständigen Wechsel der Erzählperspektive über bildgewordene Kernaussagen bis hin zur unnötigen Verschachtelung von Handlungssträngen. Effektiv jedoch folgt der Zuschauer über 109 Minuten lang Menschen mit starren Gesichtern, die sich durch eine zerstückelte und zerfahrene Geschichte ohne Anfangs- und Endpunkt manövrieren. Die glaubhaft agierenden und ordentlich gecasteten Schauspieler kämpfen sich durch ein belangloses Drehbuch, das eigentlich Trauerarbeit, mangelnde Kommunikation und die Banalität der Medien thematisieren will, dabei aber komplett vergisst eine eigenständige Geschichte zu erzählen. Weder wird eine Spannungskurve erzeugt, noch Charaktere mit Identifikationspotential geschaffen. Stattdessen bleiben alle Figuren kolossale Unsympathen, deren Verhalten rätselhaft und unerklärlich ist. Neben der guten Arbeit der Akteure vor der Kamera ist die kurze Verweildauer des Films im Kopf der Kinobesucher fast noch das Erfreulichste an Louder than bombs. Kurzum, dieser Film steht sich permanent selbst im Weg und ist daher absolut nicht empfehlenswert.

3/10

Sonntag, 3. Januar 2016

Der Mopp und das Mädchen








Joy – Alles außer gewöhnlich

Bereits zum dritten Mal versammelt Regisseur David O. Russell sein getreues Schauspielteam rund um Jennifer Lawrence, Robert DeNiro und Bradley Cooper gemeinsam vor der Kamera, um einen Genregrenzen sprengenden Film zu machen. Doch anders als in seinen mit Preisen überhäuften Vorgängern American Hustle und Silver Linings vermag Joy nicht in gleichem Maße zu begeistern. Zu aufgesetzt wirkt die Andersartigkeit, zu chaotisch ist der Handlungsverlauf, zu unausgegoren die Charakterzeichnung. Joy beginnt mit einer Texteinblendung, die besagt, der Film beruhe auf den beeindruckenden Taten mutiger Frauen. Tatsächlich handelt es sich bei Joy um ein Biopic der Erfinderin Joy Mangano, die in den späten achtziger Jahren durch ihren Erfindungsreichtum ihre schwierige soziale Herkunft überwand und zur Home-Shopping-Ikone und Matriarchin aufstieg. Folgerichtig konzentriert sich der Film hauptsächlich auf den Charakter der alleinerziehenden Mutter. Dank der präzisen Leistung von Jennifer Lawrence übertragen sich die Ängste einer jungen Frau, die stets unter ihrem Umfeld zu leiden hat mühelos auf das Publikum. Mit der Figur der Joy und ihrer Darstellung erschöpfen sich jedoch schon nahezu alle positiv hervorzuhebenden Attribute des Films. Der Streifen lässt sich grob gesagt in zwei Hälften einteilen. Während sich die erste Stunde detailliert mit Joys Familie (einem David O. Russell-typischen Panoptikum der menschlichen Extreme) beschäftigt, folgen wir in der verbleibenden Zeit der 124 Minuten Lauflänge Joys Aufstieg als Erfinderin und Werbeikone. Diese Zweiteilung wirkt sich in jeder Hinsicht negativ auf das Kinoerlebnis aus. Die mühsam aufgebauten Figuren aus Hälfte eins verschwinden im Folgenden gänzlich aus dem Blickfeld, Joys Kampf um Anerkennung in der Geschäftswelt geht mit einem vollständig getauschten Cast einher. Personen wie Joys Halbschwester, die als Quasi-Antagonisten präsentiert wird, oder die tiefe Abneigung von Joys Vater gegenüber deren Ex-Mann, lässt der Film zurück, ohne dem Zuschauer eine Auflösung für die Konflikte zu präsentieren. Lediglich der Charakterisierung der Hauptfigur ist es zu verdanken, dass der Zuschauer bei Laune gehalten wird. Unter diesem Missverhältnis haben dann auch Nebendarsteller wie Édgar Ramirez (Zero Dark Thirty, Carlos) oder Isabella Rossellini (Blue Velvet, Wild at Heart) zu leiden, die deutlich zu wenig Leinwandzeit bekommen. Technisch ist der Film solide inszeniert und bietet die typischen Russell-Trademarks wie gewagte Kameraeinstellungen, knallige Ausstattung und einen gitarrenlastigen Soundtrack. Alles in allem hinterlässt Joy durch seine unausgegorene Machart jedoch keine bleibenden Eindrücke beim Zuschauer.

5/10

Für Fans von: Das Streben nach Glück, American Hustle